Samstag, 16. April 2011

Opernkritik in Jazzmagazinen

Vor ungefähr zwei Monaten fürchtete F. auf Grund nicht enden wollender Heiserkeit um ihre Stimme. Der Gang zum HNO-Arzt stand an. Eine Kollegin empfahl ihre eine Praxis in der Nähe, wo sich auch kurzfristig ein Termin fand. Fast zwei Stunden wartete F. dann in einem mit uninteressanten Zeitschriften vollgestopften Wartezimmer. Gegen das Warten hat sie per se gar nichts einzuwenden. Dasitzen, an nichts denken, an ganz wenig denken, die Mitwartenden anschauen, auf Toilette gehen - dabei kann schon eine ganze Stunde ins Land gehen. Danach jedoch ist es Zeit zum Lesen möglichst vieler pseudoseriöser Magazine (Spiegel, Stern, Focus - die Dreifaltigkeit des fotografisch untermalten Wischiwaschijournalismus), Klatschblätter mit Frauennamen (Tina, Lisa, Laura, Brigitte, Lea etc.) oder zur Not auch Automobilzeitschriften. Leider befand sich nichts davon im Wartezimmer der hier relevanten Medizinerin. Nein, der kleine Raum war stattdessen vollgestopft mit Jugendbuchklassikern und Jazzzeitschriften. Erstere hatte F. allesamt schon in ihrer mehrere Jahre andauernden Kindheit gelesen, letztere sind - wie die drei Z im Wort Jazzzeitschriften vermuten lassen - unglaublich langweilig. Sogar die Werbung in einer Jazzzeitschrift ist langweilig, das Editorial ist langweilig, die Interviews sind langweilig - ein rundum schnarchnasiges Medium, die Jazzpresse. Außer um Jazz, Jazzmusiker, die auschließlich jazzzentrierte Freizeit der Künstler und etwaige Rezensionen neuer Jazztonträger drehen sich die Artikel nur noch hie und da um einzelne Highlights der klassischen Musik, welche bei F. dann doch marginal mehr Interesse auslöst, als Jazz. 
Sie hatte fast schon die Hoffnung aufgegeben und wollte zu Band eins von Hanni und Nanni greifen, als sich ihr die Genialität der Opernkritiken wie eine Offenbarung mit gleißender Helligkeit präsentierte. Nie hatte sie solch schöne Sätze in anderen Druckerzeugnissen gelesen! Sie klangen, als habe der durch und durch seriöse Sprecher des Deutschlandfunkes, welcher, von keinerlei Emotionen geplagt Minute um Minute Aktuelles vor sich hin artikuliert, plitzplatzplauz einen heiteren Tag gehabt und diese nie dagewesene Lust genutzt, um eine Oper zu bewerten. Aber lesen Sie selbst! Eine von F. gesprochene Version folgt, sobald sie herausgefunden hat, wie man das freie Audioformat AMR unter Linux in MP3 umwandelt. Wahrscheinlich also niemals.
Aber ernsthaft: 'Stimmlich trockener Wotan', 'jugendlich nobler Hunding', 'gerundet orgelnde Fricka'? Ist dem Herrn Fraunholzer noch zu helfen? Wie soll denn der verschrumpelte Intellekt des deutschen Durchschnittbürgers so etwas verstehen? Am Ende sind Jazzmagazine nur für HNO-Ärzte geschrieben, die in ihren zahlreichen Patientengesprächen skurrile Wortschmonzetten benötigen, um seltene Stimmanomalien verorten zu können. Als F. das Behandlungszimmer verlassen hatte, schmiß die Frau Doktor auch sogleich eine heiße Scheibe in den Player. Damit wollte sie sicherlich beweisen, daß sie ihre karge Arztfreizeit tatsächlich damit zugebracht hatte, die Jazzzeitschriften aus dem Wartezimmer von vorn bis hinten durchzulesen und diese nicht nur nett herumlagen, um den Eindruck von Bildung zu vermitteln  oder die Wartenden verzweifelt weinen zu sehen (wie es der Fall wäre, wenn F. die Praxis betriebe).