Samstag, 18. Oktober 2008

Sägemehl und Freiheit

Am Wochenende fuhren A., F. und J. 300km nördlich in die große und Insidertipps aus der Bevölkerung zufolge wunderschöne Gegend namens Laurentides. Der Plan sah vor, zwei bis drei Stunden zu wandern, die Landschaft eingehend zu betrachten, ein Mahl in einer Servieranstalt einzunehmen und die Nacht im Auto zu verbringen. Zu diesem Zwecke befanden sich sämtliche Polsterteile des – wir erinnern uns – hässlichen Sofas im Kofferraum. Außerdem viele Decken aus Fleece und das sehr dicke Ikeabett.

Man startete circa um 12 und stoppte zwischendurch im Hundepark. Dort beobachtete man gemeinsam mit einem Mann in anfangs blütenweißer Hose die sich recht schnell vollziehende Farbveränderung desselben Kleidungsstückes durch intensive Einwirkung der anwesenden Haustiere. Nebenbei erzählte der Mann von seinem ehemals in der Nähe bestehenden Lederfetischgeschäft und der Herstellung echter Cowboybeinschoner mit Fransen und Nieten. Der genaue Ausgang der Geschichte fiel seinem unverständlichen Akzent zum Opfer. Irgendetwas war auf jeden Fall geklaut worden – das cowboyvernarrte Klientel konnte es nicht gewesen sein, denn jenes hatte F. In letzter Zeit öfter durch die Gassen flanieren sehen.

Der Weg in Richtung St. Jerôme, einer der südlichsten Städte der Laurentides, konnte angesichts 100km/h Geschwindigkeitbeschränkung nur schleppend zurückgelegt werden. Ein Jammer, wenn man sich die schönen, mindestens sechsspurigen Autobahnen anschaute. Nicht, daß F. hätte rasen wollen, keineswegs. Aber 130km/h könnten es schon sein. Vom ungesetzlichen Vorhaben des Zuschnellfahrens sei man übrigens gewarnt – schon 160km/h kosten außerhalb der Vororte 685 Dollar zuzüglich Steuern, mal abgesehen von den 10 Punkten auf dem Konto im kanadischen Flensburgäquivalent.

Nach St. Jerôme entschloß die Straße sich dann, nur noch zweispurig zu sein und höchstens 90km/h zu erlauben, schließlich brauchte man Zeit, die eintönige Landschaft anzuschauen. Vereinzelte Hügel, sehr viele entlaubte Birken und andere Laubbäume, große Distanzen wohin das Auge blickte. Fast so häufig wie die Bäume waren nur die „Privat! Betreten verboten!“ Schilder, die überall an Bäumen angebracht worden waren. In der sogenannten einsamen Wildnis des Quebecer Landes steht auch an den entlegensten Waldwegen ein Briefkasten und jedes Stück Land hat einen Eigentümer, der nicht möchte, daß fremde Sohlen den eigenen Boden betreten. A., F. und J. scheiterten auf der Suche nach einem schönen Waldweg zum Spazieren, da zwar wenige Leute das Land bewohnen, von diesen aber jeder einzelne eine Unmenge an Land zu besitzen scheint. Die nationalen Wanderwege sind tabu, da auch angeleinte Hunde dort verboten sind, was das Mitführen von J. eher schwierig machte.
Schließlich fanden die drei Reisenden ein einigermaßen begehbares Gebiet, das sich in staatlichem Besitz befinden mußte, da es direkt unter der Hochspannungsleitung lag. Ohne Weg präsentierte sich der Wald allerdings als sehr schlecht begehbar.

Ein paar Rehe und einige Kilometer später beschloß man den Tag in einem italienischen Restaurant (Hunde verboten!) und fuhr dann 2km bis zum zuvor entdeckten, geschlossenen Campingplatz zurück, auf dem im Auto übernachtet wurde. J. mußte in mehrere Decken eingewickelt im Fußraum des Beifahrersitzes schlafen, A. und F. hauchten hinten die Scheiben des Fahrzeugs voll, welche über Nacht von innen komplett zufroren. Draußen waren sicher unter Null Grad, drinnen ließ es sich unter der Decke gut aushalten. Gegen 5 Uhr früh fing J. an zu zittern, was das gesamte Fahrzeug in Vibration versetzte. Sie wurde hinten von A. und F. wieder aufgewärmt und schlief dann bis um 9 auf dem Beifahrersitz. Auf dem Campingplatz, der direkt an einem See lag, frühstückte man und fuhr dann zurück nach Montréal.

Vermutung von F.: Im Quebec außerhalb der Stadt lebt genau der Typ freiheitsliebender Mensch, der gern 100 Hektar Land besitzen möchte, mit dem er nicht so richtig viel anzufangen weiß, daß aber seine Freiheit und Unabhängigkeit unterstreicht. Man ist Individualist, zusammen mit den anderen 50,000 Individualisten, die auf einer Fläche von der Größe Deutschlands wohnen und 25km bis zum nächsten Supermarkt fahren müssen. Die kleinen Städte enthalten Fastfoodrestaurants, Chevrolet- und Fordhändler, lange Straßen, schlecht gebaute Häuser und einen Charme von -10 auf der Clooneyskala (Charmeäquivalent zur Richter-Skala).

Fakten: Die Menschen sind sehr nett und sprechen Französisch, was in diesem amerikanischen Umfeld immer wieder erstaunlich deplaziert wirkt. Man arbeitet in der Holzbranche oder im Tourismus, der im Winter Schnee, im Herbst bunte Blätter und im Sommer Wildnis in einer sonst landschaftlich absolut ereignisarmen Gegend vermarktet. Der kanadische Traum.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen